Exhibition
in Zürich / Switzerland
Über sechs Jahrzehnte hinweg hat sich ihr Werk spannungsreich zwischen Figuration und Abstraktion, zwischen einer rationalen Strenge und einer visionären Emotionalität entwickelt. Eben achtzig geworden, blickt sie heute hellwach und voller Klarheit darauf zurück: eine Frau, die in ihrer Kunst ebenso eigenständige und engagierte Wege verfolgt wie im Gesellschaftsleben und im Privaten. Fast zehn Jahre hat sie nicht mehr ausgestellt – so wird es Zeit, diese beeindruckende Figur und ihr Werk noch einmal zu entdecken: Erica Leuba. Wie immer versuchen wir auch diesmal, das Werk der beiden Stiftungsgründer Albert und Melanie Rüegg-Leuthold auf die Arbeit unserer Gastkünstlerin zu beziehen.
In fast vierzig Jahren professioneller Auseinandersetzung mit Kunst ist mir wahrscheinlich nie eine Künstlerin begegnet, die ihrem eigenen Werk gegenüber so kritisch eingestellt war wie Erica Leuba. Mit der Kritik am eigenen Werk ist es in der Kunst so eine Sache. Zum einen gehört sie unabdingbar dazu damit sich ein Werk entwickeln kann – schliesslich sind die Künstler:innen ja auch die ersten Betracher:innen ihrer Werke. Weil Künstler:innen aber in der Regel allein arbeiten, müssen sie sich gegenüber zu viel Selbstkritik auch schützen. Denn diese Kritik könnte das Werk, die Weiterführung des Schaffens, gefährden und im schlimmsten Fall zersetzen. In ihrer ausgeprägten Selbstkritik hat Erica Leuba tatsächlich im Verlauf ihres künstlerischen Schaffens viele Werke zerstört. Leider, muss man wohl sagen. Wir wollen uns im Folgenden dem widmen was ihrer Kritik Stand gehalten hat.
Erica Leuba blickt heute auf ein “fertiges” Werk, das sich über sechs Jahrzehnte erstreckt – und arbeitet in Kleinformaten weiter. Vielleicht liegt ihre kritische Haltung auch daran, dass sie eine gewisse Distanz zu ihrer Arbeit entwickelt hat. Ich sehe in dieser kritischen Haltung allerdings eher einen edlen Charakterzug, der darauf bedacht ist, das eigene Werk nicht zu überschätzen. Tatsächlich ist gerade das Frühwerk Leubas – aus heutiger Sicht – hochinteressant. Ausgebildet an der renommierten “Ecole nationale supérieure des beaux arts” in Paris, an die sie aufgenommen wurde, entwickelte sie nach verwunschenen, lyrischen Auseinandersetzungen mit Kubismus und Surrealismus eine anthropomorphe, biomorphe, organisch-vegetabile Bildsprache zwischen Figuration und Abstraktion. Giorgia O’Keeffe klingt ein wenig daran an – die ihr allerdings unbekannt war.
Die wenigen Oelbilder und frühen Skulpturen aus dieser Zeit – wir sprechen von den bewegten Jahren zwischen 1967 bis 1976 – erscheinen wie Übersetzungen von körperlichen Gefühlszuständen. Körperlichkeit ist in Bilder und Skulpturen aus bemaltem Stein und Polyester übersetzt, die verbergen und offenbaren. Wie transformiert sich körperliche Lust, körperlicher Schmerz, wie transformieren sich die mentalen Ereignisse, die sich daraus ergeben, in Bilder und Skulpturen? Dieser wahrlich nicht einfachen Aufgabe hat sich die Künstlerin gestellt. In Leubas Darstellung nimmt das Körperliche eigenständige Formen an, löst sich von dem, auf was es sich bezieht, und erlangt in seiner ganzen, warmen Emotionalität eine eigenständige Qualität. Diese kostbaren Werke der Auseinandersetzung mit weiblicher Körperlichkeit und Sexualität tragen bereits Spuren einer geometrischen “Objektivierung des Subjektiven” – wenn man so will. Das enthebt sie der ereignishaften Zeit und verleiht ihnen eine dauerhafte Qualität.
In dieser Phase des Aufbruchs und der Neuorientierung engagierte sich Erica Leuba auch in der Frauenbewegung. In Zürich, wo sie seit kurzem wieder lebt, geboren und aufgewachsen, “emigrierte” sie 1966 in die rurale Umgebung von Islisberg im Kanton Aargau – und erzählt, wie sie damals als erste hosentragende junge Frau quasi als Ausländerin im Kanton Aargau angekommen sei. Sie wird zwar schliesslich gut aufgenommen auf dem Land, trug aber wohl immer zwei Seelen in ihrer Brust. 1969 kommt ihre Tochter Eva zur Welt. Die Beziehungen zu Zürich brechen mehr und mehr ab.
Möglicherweise auch beeinflusst durch ihren Mann, den bekannten Bildhauer Marcel Leuba, wendet sich die Künstlerin mit dem Ende der 1970er-Jahren mehr und mehr einer geometrischen Formensprache zu bis diese 1984 vollends geometrisch wird. Sie habe beim Figürlichen irgendwann nicht mehr weitergewusst und habe ein Bedürfnis nach einfachen, klaren Formen, nach Strenge verspürt, analysiert sie heute nüchtern. Die Werke des Übergangs zeigen noch körperliche Anklänge – seien es Knochen, Brüste, Drehungen. Auch was die Gattungen anbelangt, bewegen sie sich im Übergang: von Zeichnungen und Collagen hin zu Reliefs in Stein bis zu eigenständigen, gewichtigen Skulpturen. Verhandelt werden neben Persönlichem auch Themen wie Hunger und Krieg. Es ist offensichtlich eine Zeit des Umbruchs, der Brüche und Spalten, der Dynamik und der Zerrissenheit. Es zeigt sich darin aber auch schon etwas, das für Leubas gesamtes Werk kennzeichnend ist: der Versuch einer Orientierung in der Unübersichtlichkeit des Ganzen, der Versuch, eine Richtung, ein Ziel zu gewinnen im Drunter und Drüber der nahen und fernen Geschehnisse.
Zum Ende der 1980er-Jahre hin entstehen parallel Oelbilder und sich in der Fläche orientierende Skulpturen aus belgischem Granit, den sie zum Entsetzen mancher Künstlerkolleg:innen dieser Zeit mit Kunstharzfarbe spritzt. Gelb, Blau, Rot herrschen vor – und Leuba ist damit nie so nah an der konstruktiv-konkreten Zürcher Tradition wie während dieser Phase. Sinnlichkeit und – oft diagonal agierende – Dynamik wirken fort. Und doch wahren diese Arbeiten Distanz zur kühlen Kalkulation der konstruktiven Generierungen Anderer. Es ist, als ob ihre organische “Vorgeschichte” noch mit hineinspielte – und sie somit widerständiger, geheimnisvoller und narrativer machte als viele Werke ihrer bekannten konstruktiv-konkreten Kontrahenten. “Mit sparsamsten Mitteln sucht Erica Leuba heute die sie seit langen Jahren beschäftigende Thematik von rund und eckig, von Bogen und Kante, von Schutz und Bedrohung, Geborgenheit und Aggression darzustellen”, bilanziert die Kunstkritikerin Annelise Zwez die Entwicklung von Leubas Werk 1987.
Mit Beginn der 1990er-Jahre wendet sich Leuba mehr und mehr einem neuen Genre zu: Reliefbildern aus bemalten Pavatexflächen und später vor allem Pavatexstäben. Diese Bildreliefs sind mehransichtig: Sie verändern sich je nach Blickwinkel. Ihre Formensprache bleibt zunächst noch geometrisch. 2009 kommt es dann allerdings nochmals zu einem überraschenden Entwicklungsschritt in diesem Werk. Fast pop-artige Motive brechen nun ein: Pflanzen, an Matisse gemahnende tanzende Figuren, Gesichter von Schlafenden, Versonnenen, Verklärten im Profil, schliesslich Engel.
Die Künstlerin sieht in diesen späten Werken “Portale”. Was uns zurück führt zum Motiv der Suche nach einer Orientierung, einem Fokus, einem Ziel. Im Pluralismus der Ansichten, der unterschiedlichen Blickwinkel zeigen sich diese – letztlich ungreifbaren – Orientierungspunkte in der Ferne mehrheitlich aus schrägen, “unvollkommenen” Perspektiven. Sie gehören offensichtlich auch zu dem, was uns die Künstlerin vermitteln will. Die in einer reinen Frontalität sich ergebene, sich ereignende Klarheit der Orientierung ist die Ausnahme. Das sind die Momente, in denen sich aus einer verwirrenden, ablenkenden Umsicht eine fokussierte Weitsicht einstellt, eine Vision zeigt, die rar ist. Interessant ist an Leubas Werk, dass sie diese – spirituelle? – Weitsicht nicht monolithisch postuliert. Sondern dass sie diese “Visionen” (setzen wir sie in Anführungszeichen) uns als eine von vielen Möglichkeiten, Blickwinkeln präsentiert. Als seltene – zu Zeiten Schillers hätte man gesagt: erhabene – Glücksmomente. Um sie zu erleben, müssen wir uns bewegen. Und erfahren dabei, wie sich diese Glücksmomente abheben von all den anderen, weniger glücklichen, weniger perfekten, weniger erhabenen Momenten, die auch zum Leben gehören.
Simon Maurer, Stiftungsrat
Öffnungszeiten Mi-Fr 12 – 18:30 Uhr, Sa 11 – 17 Uhr
Location:
Stiftung Kunstsammlung Albert und Melanie Rüegg
Rämistrasse 30
8001 Zürich
Switzerland