Exhibition

in Zürich / Switzerland
31.08.2024 - 09.11.2024 00:00
Martina von Schulthess - Die Sonnenträgerin

Die Jung-Schildkröte, die auf manchen der neuen Bilder von Martina von Schulthess zu sehen ist, lebt nicht mehr. Sie, die Schatten- und Sonnenträgerin, lebt in Bildern weiter. Eingehegt, gefasst auf einem (künstlichen) Territorium zwischen drei gekreuzten Osterglocken. Sie erinnern an ein Gitter. An ein Andreaskreuz. Drei Blumen, das kleine Tier, eine graue Fläche. Mehr ist da nicht. Doch – die vier Protagonisten werfen Schatten.

Wie viele ihrer Vorfahren beschäftigt sich Martina von Schulthess in ihrer Malerei mit Vergänglichkeit und Tod, mit dem Lauf der Zeit, dem Wandel des Lichts. Mit dem Werden, der Blüte, dem Welken und Vergehen. Dem bewegten und dem stillen Leben. Auch Melanie Rüegg Leuthold ging in ihren Bewegungsstudien verwandten Themen nach – und Albert Rüeggs Werk ist durchsetzt mit dem Wunsch, blühendes Leben festzuhalten. Mit Vanitas-Motiven.

Malerei ist ein Medium, das den flüchtigen Dingen, den vorüberziehenden Momenten Dauer verleiht. Bilder zu malen, braucht Zeit und gibt Zeit. Sind es die lange, langsame, konzentrierte Auseinandersetzung mit dem gemalten Gegenstand, dieser gedehnte Zeitraum, der einem einzigen, oft vermeintlich unscheinbaren Gegenstand gewidmet ist – sind es diese Eigenschaften, die das gemalte Bild “automatisch” aus dem “normalen” Zeitenlauf herausheben? Malerei ist darauf angelegt, Zeit zu überdauern. Hier, in den Bildern, steht die Zeit still, während sie rundherum weiterläuft.

Historienbilder halten geschichtlich bedeutende Momente für die Zukunft fest. Genrebilder widmen sich einem bestimmten Zeitgeschmack, zum Beispiel in der Wiedergabe von Interieurs. Porträts halten das Alter der Modelle fest. Malerei ist immer eng mit Zeit verbunden, mit dem Lauf und dem Stillstand der Zeit, mit ihrem Fortwirken aus der Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft.

Nirgendwo geschieht das so ausgeprägt, so symbol- und anspielungsreich wie in der Gattung der Stillleben. Ihre Motivik ist typisiert. Da gibt es die Motive, die sich im Lauf der Zeit nicht oder kaum verändern. Steine zum Beispiel, Muscheln. Archäologische Fundstücke, Scherben, Totenschädel verweisen in ihrem Bezug zur Vergangenheit bereits mehr oder weniger direkt auf die Vergänglichkeit. Ein interessantes Motiv sind Münzen. Auch sie sind vergänglich, Währungen bekanntlich volatil und nicht dauerhaft mit Werten hinterlegt. Vasen und Gläser sind genauso spannende Zwischenformen: als Behältnisse für Flüchtiges. Am weitaus häufigsten beschäftigt sich die Stillleben-Malerei aber mit Motiven, deren Lebenszeit zum vornherein begrenzt und verhältnismässig kurz ist. Der Klassiker sind Blumen. Oder pflanzliche Nahrungsmittel wie Pfirsiche, Peperoni, Zitronen. Niederländische Stillleben-Spezialisten leisteten sich denn auch schon die Frivolität, unter frische Äpfel einen angefaulten zu mischen.

Kommen wir schliesslich zu den Tieren. Gegenüber dem Leben der Menschen ist das Leben der Tiere, wenn man nicht gerade ein Elefant ist, arg verkürzt. Stillleben, die als bewusst gesetzten Kontrast zu “toter Materie” lebende Tiere wie zum Beispiel Vögel enthalten, sind streng genommen nicht reine Stillleben. Oft sind es tote Tiere, die auf Stillleben verewigt werden. Häufig als Jagdtrophäen, ein toter Hase oder ein Fasan. Fische. Sie sind zum einen “memento mori”, Vanitas-Symbole, Erinnerungen an die (eigene) Sterblichkeit. Und zum anderen verweist der Bezug zur Nahrungskette – der Mensch erhält sich mit dem toten Tier am Leben – auf das je nach Standpunkt wunderbare, praktisch-pragmatische oder grausame Zusammenspiel zwischen Leben und Sterben.

Bei Martina von Schulthess ist es ein besonderes Tier, das in einer neuen, eigens für diese Ausstellung geschaffenen Werkgruppe wiederkehrend vorkommt. Es gehört zu den Tieren, die über eine ausgeprägt lange, dem Menschenalter ähnliche Lebenszeit verfügen. Schildkröten können sich mit ihrem Panzer gut schützen. Ihre Feinde, vor allem in jungen Jahren, sind Greifvögel. Martina von Schulthess malt Griechische Landschildkröten. Mit ihrer Verbreitung in Griechenland, Bulgarien, sowie in den Küstengebieten des Balkans und Italiens gehört sie zu den drei häufigsten Schildkrötenarten in Europa. Auf Grund der Zerstörung ihrer ursprünglichen Lebensräume und der Haltung als Haustier sind ihre Bestände allerdings gefährdet.

Malen heisst immer auch Zeit aufwenden für die Auseinandersetzung mit einem Gegenstand: sich in ihn einzudenken, ihn möglichst umfassend zu erfassen. In einem einzigen Bild als “pars pro toto”, zugleich ausschnitthaft und zusammenfassend. Bei Martina von Schulthess ist es eine Reihe von Bildern geworden. Schildkröten zu malen hiess für sie auch: “Ich möchte schauen, wer das ist.” Wer also ist die Schildkröte, in den Bildern von Martina von Schulthess?

Sie ist, möchte man vielleicht ganz zuerst sagen, ein eigenständiges, autonomes Wesen. Die Malerin begegnet ihr diskret und rücksichtsvoll. Das Besondere an einer Schildkröte ist wohl ihr verhornter Panzer, der die verletzlichen Weichteile unter ihm beschützt und das Tier zugleich auch tarnt. In seiner symmetrischen und gleichwohl komplexen Zeichnung, die bei zwei Schildkröten nie identisch ist, enthält der Panzer Informationen zum Alter des Tiers. Die Malerin interessierte sich neben der Zeichnung des Panzers, die für die illusionistische Darstellung von Raum beziehungsweise dessen Vermeidung in der Fläche der Malerei eine Herausforderung darstellt, besonders auch für die ganz in Erdtönen gehaltenen Farben.

Der Gang der Schildkröte ist so bedächtig, dass wir denken, sie würde sich immer erst überlegen, was sie nun als nächstes machen soll. Vielleicht ist das ja auch so. Was sie mit sich herumträgt, ist nicht nur ihr Panzer, sondern auch das Licht. Durch die leichte Erhebung vom Boden verschiebt sich der Schattenlauf über ihrem Körper. Ihre Existenz ist im wahrsten Wortsinn so einflussreich, dass sie den Lauf der Schattenlinie bestimmt. Das macht sie zur Schatten- wie zur Sonnenträgerin – um zwei Bildtitel zu zitieren. Mit Schattenlinien lässt sich nicht nur die Zeit messen. Sie können auch zum Ausdruck eines besonderen Moments werden, der so nie mehr wiederkehrt. Wie die Erdkugel kann auch der Körper der Schildkröte im Halbschatten stehen. Sich aus dem wärmenden Licht in den kühlenden Schatten bewegen. Licht steht auch in der Malerei für die blühenden, guten Zeiten im Leben. Im Schatten erholen sich die Dinge, verharren, oder sie ziehen sich darin zurück. Schatten sind Zeichen, dass Licht begrenzt, endlich ist. Sie spielen ein Spiel zusammen, Licht und Schatten. Es erzählt von Freude, von schönen, selbstvergessenen Momenten im Leben. Es scheint dann, als würde es immer so bleiben. Aber die Schatten, die auch zum Leben gehören, kehren zurück. Es ist ein stetiges, ernstes wie unbeschwertes Wechselspiel zwischen Licht und Schatten.

Darum geht es auch in dieser Malerei. Die neben den Schildkröten uns hier auch noch Blumen und Meerestiere präsentiert. Schnittblumen, Zierblumen als Botschafterinnen der Vergänglichkeit. Kleine, schwarze Punkte weisen auf den Blütenkelchen der Osterglocken bereits darauf hin, dass der Zenit ihrer Lebenszeit womöglich schon überschritten ist. Man hätte es nicht gedacht – aber es ist so. Einige Blätter eines Geranienzweigleins sind bereits abgefallen. Sie werden schneller vergangen sein als der Rest der Blätter, die sich am Zweig noch nähren. Die Sardinen schauen, als würden sie noch leben. Angehalten zwischen Leben, Verwertung und Verwesung steht die Zeit in diesen schillernden Wunderwerken der Natur still. Normalerweise stehen sie uns, ungefragt, als Beifang zum bedenkenlosen Verzehr zur Verfügung. Ihre Schönheit und ihr verlängertes, zweites Leben begegnen uns in der Malerei. Doppeldeutig legt ihnen die Malerin eine Zucchetti-Blüte bei: als nutritive Beilage und als Grabbeigabe.

Wer Stillleben malt, malt zwei Bilder. Erst wird das Bild arrangiert, komponiert, “erfunden”. Durch Disharmonien werden Harmonien geschaffen. Farben platziert, Räume entschieden, Lichter gesetzt. Dann wird das Arrangierte erst gemalt. Das Stillleben ist vielleicht die persönlichste, intimste, geheimnisvollste Disziplin in der Malerei. Hier wird mit Stellvertretern, mit Symbolen und Metaphern gearbeitet. Mit magischen Verhältnissen. Beziehungen werden erprobt, ausbalanciert und in der Waage gehalten. Spiel und Ernst, Leben und Tod begegnen sich hier. Und schliesslich können Stillleben auch Liebeserklärungen, Liebesbeweise sein – über den Tod hinaus.

In einem kleinformatigen, graugrundigen Triptychon begegnen sich Malerei und Zeitläufte am deutlichsten. Ein blauer Teller wird sekundiert von zwei Pinseln, einem blauen und einem grünen. Ein grüner von einer Schildkröte, die sich daran macht, aus dem Bild zu gehen. Und von einem kleinen Salatblatt. Ein roter schliesslich von Geranienblüten – und von einem Blutstropfen. Die Geschichte, die hier erzählt wird, wollen wir offenlassen. Es ist die Geschichte von drei verschiedenfarbigen Glastellern. Das Licht zeichnet Glanzlichter auf ihnen ab – und sie werfen farbige Schatten auf den grauen Grund. Es ist die Geschichte von Eiern und von Eierschalen. Die Geschichte von einer Spielzeugschildkröte, einer echten (?) Schildkröte und einer Schildkröte, die fehlt. Und die Geschichte der Malerei, die sie am Leben erhält.

Wie Planeten auf ihrem Lauf durchs Universum sind die drei Glasteller auf dem Malgrund der drei Leinwände unterschiedlich platziert. Der blaue austariert zwischen Pinseln und Schatten im Bildformat gehalten. Der grüne am Bildrand angeschnitten. Und der rote im optischen Zentrum des Bildes. Vielleicht steht der Lauf dieser drei Tellerplaneten für drei Zustände des Lebens: für das ungeborene, verheissungsvolle, für das lebendige, unvorhersehbar-vorhersehbare und für das Nachleben, das ephemere, mit Stellvertretern erinnerte.

Simon Maurer, Stiftungsrat

Öffnungszeiten Mi-Fr 12 – 18:30 Uhr, Sa 11 – 17 Uhr

Ausstellungsdauer 31.08. – 09.11.2024

www.kunstsammlung-ruegg.ch

Location:
Stiftung Kunstsammlung Albert und Melanie Rüegg
Rämistrasse 30
8001 Zürich
Switzerland

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