Exhibition
in Zürich / Switzerland
Rachel Lumsden ist durch und durch Malerin. Ihre figurativen Kompositionen sind Collagen aus Weltgeschichte, Träumen, Medien- und Märchenwelt, versetzt mit Allusionen aus der Literatur- und Kunstgeschichte. Hochgebildet und zugleich körperlich und intuitiv, vermittelt die britisch-schweizerische Malerin ihren Betrachter:innen individuelle, bewegte und bewegende Erlebnisse: einzutauchen in ihre Bildwelt und sich darin zu verlieren. In ihrer Unberechenbarkeit und Widersprüchlichkeit, im Zusammenhalten von Auseinanderstrebendem ist diese Malerei nichts weniger als ein ebenso persönliches wie kollektives Zeugnis unserer von Fliehkräften gezeichneten Zeit. Animiert von Albert Rüeggs Auseinandersetzung mit dem Wandel seiner Zeit und von seinem koloristischen und kompositorischen Wagemut, hat sich Rachel Lumsden aufgemacht, ihre Grossformate mit verwandten Bildern aus dem Gesamtwerk des Stiftungsgründers zu kombinieren. Entstanden ist dabei ein überaus reizvoller Paarlauf über Jahrzehnte hinweg, getragen von einer parallelen Methodik des neugierigen malerischen Ergründens.
“Viele Künstler:innen haben Angst vor der Malerei”, schreibt Rachel Lumsden in ihrem Buch “Igniting penguins – on painting now” (Scheidegger & Spiess), aus dem die Künstlerin gemeinsam mit der Schauspielerin Nicole Spiekermann am 15. Januar 2025 in der Rüegg-Stiftung lesen wird. Angst vor der Malerei – nicht nur deshalb, weil Malerei Jahrhunderte von Kunstgeschichte mit sich führt. Sondern Angst auch davor, was Malerei in und aus einem selbst hervorzuholen vermöge, wenn die weisse Leinwand sich zu füllen beginnt. Angst vor all dem Unbewussten also, das wir nicht sehen können, nicht sehen wollen. Das Unbewusste, das gemäss neuster Forschung ja nicht die Spitze des Eisbergs, sondern der Eisberg selbst ist, den wir mit uns herumtragen. Mit diesem Berg des Unbewussten, dem kollektiven und dem individuellen, beschäftigt sich Rachel Lumsdens Malerei. Das Unbewusste schafft seltsame Verknüpfungen. Von der Gegenwart in die Vergangenheit, von der Traumwelt in das, was wir reale Welt nennen, vom Erfundenen ins sogenannte Wirkliche. Verknüpfungen sind auch wesentliche Merkmale in Lumsdens Werk. Auf einem einzigen Bild verknüpft sie Bilder aus den Medien, private Erfahrungen, Märchenwelten, literarische oder kunstgeschichtliche Bezüge. Und verwebt diese unterschiedlichen Quellen zu einem nahtlosen, neuen Ganzen.
Obschon es sich um figurative Malerei handelt, ist diese Kunst nicht eigentlich erzählerisch. Sie erzählt keine Geschichte – sondern sie konfrontiert in einem Moment mit einer komplexen, “verknüpften” Szenerie, die sich den Betrachtenden erst nach und nach erschliesst – und durch die es viele Wege gibt. So individuell der Zugang zu Lumsdens Malerei ist, so handelt sie auch von der Beziehung zwischen dem Individuum und einem kollektiven Erfahrungsraum, der bis ins Weltgeschichtliche reicht. Sie handelt vom Umgang mit diesem das Individuum weit überragenden Raum, von der Orientierung darin, vom Sich-Verlieren und Geborgensein, vom Zerrissenwerden zwischen Widersprüchen.
Das Individuum, die Protagonisten in Lumsdens Kunst sind in ihren Bildern oft gar nicht abgebildet (wenn, dann sind sie bezeichnenderweise meist gesichtslos). Die Protagonisten sind wir selbst. Von der Künstlerin werden wir in die Bilder hineingezogen: Wir “erleben” die Bilder, “bewegen” uns in ihnen. Lumsdens Malerei ist so aktiv, im Wortsinn gegenwärtig, dass sie sich stets von Neuem zu ereignen scheint: wenn jemand Neues vor ihr steht. Und sich in diese fremde Vertrautheit, vertraute Fremde der Bildgestaltungen hineinsieht. Das in Grossformaten überraschend Aquarellistische erscheint noch ganz frisch, noch kaum trocken, beweglich, als Möglichkeitsform. Und doch ist es schliesslich eine finale Setzung, die über einen längeren Prozess des Verwerfens, Scheiterns, Wegwischens, Übermalens geführt hat.
Lumsdens Farbpalette ist für zentraleuropäische Augen ebenso ungewöhnlich. Viel Violett, Orange, giftige Grüntöne werden miteinander kombiniert. Und immer wieder ist da dieses Schwarz, das Verbindlichkeit, Unausweichlichkeit schafft. An den schwarzen Tatsachen kommt das kleine Individuum, das wir alle sind, nicht vorbei. Sosehr wir uns wünschen, in flüchtig gesetzten, irisierenden Pastelltönen darum herumzukommen.
Vertrauen ist somit in dieser Malerei ein Vertrauen in persönliche Erfahrungen, Aneignungen, in Träume, Spekulationen. In die eigene Fragilität schliesslich, und in das Provisorische eigener Urteile: vor der – vermeintlichen – Stabilität, Grösse und Wucht der Weltgeschichte.
Soweit, was ich vor zwei Jahren zu einer verwandten Bildauswahl von Rachel Lumsden im Rahmen der Ausstellung “vertrauen” im Helmhaus geschrieben hatte. In der Rüegg-Stiftung paart die Künstlerin ihre Bilder nun mit Werken des Stiftungsgründers Albert Rüegg – und hat dafür nicht weniger als Rüeggs Gesamtwerk von gegen 700 Bildern gesichtet (online, wie man das heute so macht). Entstanden sind dabei überaus reizvolle Bildpaare. Mal legt es die malerische Nachfahrin auf kompositorische Analogien an, dann sind es frappante Farbverwandtschaften. Mal sind es inhaltliche Nachbarschaften, mal ist es der fleckige Farbauftrag, die flirrende, changierende Atmosphäre. Was sich ähnlich sieht, kann inhaltlich grundverschiedene Quellen haben: Rüeggs nächtliche Aufsicht auf Manhattan und Lumsdens Aufsicht auf ein – wie man heute sagen würde – disruptives Kriegsszenario in der Ukraine. Erzählungen spinnen sich von Bild zu Bild weiter: Indem ziselierte Stühle von Lumsden zu ziselierten Kirchenfassaden von Rüegg werden. Oder, diesmal in umgekehrter Richtung, eine schaukelnde Barke auf offener See von Albert zum angeblich grössten U-Boot der Welt bei Rachel wird. Wo bei Lumsden ein Radfahrer den brennenden Grenfell-Tower in London im Rücken hat (ahnungslos? flüchtend?), öffnet sich bei Rüegg in Mexiko das Tor zu einer Kirche.
Die letztgenannte Kombination deutet schon an, dass bei der ganzen Abgründigkeit und Doppelbödigkeit von Lumsdens Kunst in ihrem Paarlauf mit “Albert” auch eine Menge Humor steckt. Den mächtigen Mann zu Pferd ihres Reiterdenkmals hat sie eh schon vom hohen Ross heruntergeholt: Er geht im gleissenden Licht auf, das die Herrscherfigur in Luft auflöst. Gepaart hat sie diese vaporisierende Farce von patriarchalischer Macht mit Rüeggs schrägem Blick vom Campanile auf die Piazza San Marco, den vielleicht berühmtesten Platz der Welt – auch er natürlich ein Zeugnis patriarchalischer Herrschaft. Albert Rüegg lässt ihn – als gezieltes Statement – fast schon zu einem ornamentalen Kinderspielplatz verkommen.
Angetan haben es Rachel Lumsden offensichtlich Alberts fast schon an naive Malerei erinnernde verzerrte Ansichten, die sein subjektives Erleben zum Beispiel vor sogenannten Sehenswürdigkeiten spiegeln. So spielt auch bei Albert das Verhältnis zwischen dem Malersubjekt und dem gemalten Objekt, spielt der subversive Kommentar seiner künstlerischen Autorschaft eine bedeutende Rolle. Der Maler, die Maler:innen setzen ihre Objekte, ihre Motive in Szene, sie komponieren, interpretieren sie, und geben ihr eine Vieldeutigkeit, die ihre Bilder auf Dauer spannend macht. In der frivolsten Kombination steht auf der einen Seite ein Containerschiff der Firma Evergreen (welche Ironie des Schicksals), das sich bei krankem Wüstenlicht im Suez-Kanal verharkt hat und damit die Weltwirtschaft blockiert – und anderen eine Traubendolde, die Albert im Aluminiumsieb geparkt hat. Auch die Trauben könnten zweifellos schöner liegen. Dass sie das nicht tut, macht allerdings Sinn. Auch das bürgerliche Leben, das die Rüeggs zumindest gegen aussen gepflegt hatten, schien nicht immer ganz im Lot zu sein. Wie die Dolde nicht im Zentrum des Siebs liegt, so steht auch das Sieb nicht in der Mitte des Schemels. Manchmal müssen die Dinge doppelt verrückt sein, damit das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Dass diese Balance allerdings immer eine gefährdete, fragile ist und war, ist der Weltsicht der beiden Malenden, um die es hier geht, gemeinsam. Sie waren und sind beide Zeug:innen einer wackelnden Welt, in der sich viel gleichzeitig bewegt und verändert. Einer Welt von sich ansteckenden Kettenreaktionen, die ausser Kontrolle zu geraten drohen. Einer Welt der Unruhe, der Verstörungen, der Irritationen und der Perversion von Macht. Als Künstler:innen blieb und bleibt Albert und Rachel nichts anderes übrig, als dieses unberechenbare Zittern, diese Brüche und Schwelbrände bildnerisch festzuhalten. Und darauf zu hoffen, dass sich die Dinge wieder bessern.
Simon Maurer, Stiftungsrat
Öffnungszeiten Mi-Fr 12 – 18:30 Uhr, Sa 11 – 17 Uhr
Ausstellungsdauer 21.11.2024 – 08.02.2025
Location:
Stiftung Kunstsammlung Albert und Melanie Rüegg
Rämistrasse 30
8001 Zürich
Switzerland