Exhibition
in Zürich / Switzerland
Renate Bodmer hinterlässt ein eigenwilliges, hochspannendes Werk, das Verbindungen zieht zwischen Traum und Alltag. Es manifestiert sich hauptsächlich in teilweise riesigen Zeichnungen. Erstmals seit dem Tod der Künstlerin im vergangenen Februar werden nun ausgewählte Arbeiten aus dem Nachlass gezeigt, um 1990 entstanden. Renate Bodmers Werk steht etwas im Schatten der Arbeit ihres Partners Bendicht Fivian, dem wir unsere letzte Ausstellung gewidmet hatten. Es hat mehr Licht verdient – gerade weil es hier um Themen geht, die nicht nur angenehm sind. Interessant ist auch der Quervergleich zur Paarbeziehung des Gründerpaars unserer Stiftung, Melanie Rüegg-Leuthold und Albert Rüegg.
Über das “Fallen” sind schon Ausstellungen kuratiert worden, zum Beispiel in der Graphischen Sammlung der ETH Zürich. Und kunsthistorische Essays geschrieben worden. Die Manieristen waren mit Sicherheit “fallsüchtig”. Sie setzte aber schon früher ein, die Fallsucht: Mit Themen aus der Mythologie natürlich, mit vom Himmel fallenden Engeln. Renate Bodmer bindet das Thema des Fallens an den Alltag zurück. Und verbindet es aus diesem Alltag heraus mit dem Traum. Oder ist es eher umgekehrt? Gab der Traum das Motiv vor – und kehrt es nun im Alltag wieder?
Die Kunst gehört zu den seltenen Bereichen in unserer Gegenwart, in denen sich Traum und Alltag begegnen können. Unsere Gegenwart sucht diese Begegnung nicht – nein eher verdrängt sie sie. Träume sind einer Gegenwart, die auf verwertbare Klarheit aus ist, nicht dienlich. Deshalb werden sie verdrängt. Es wäre interessant, ein Traumseminar mit Managern abzuhalten. Ob sie überhaupt, dauergestresst, ihre Träume zulassen? Oder ob sie am Ende, vielleicht auch nur von den Albträumen, dann doch noch eingeholt werden?
Träume sind stark, sie haben viel Macht. Auch Macht über Manager. Das macht uns Träume unheimlich. Deshalb weichen wir ihnen gern aus. Künstlerinnen und Künstler (vor allem: Künstlerinnen!) gehen oft in die umgekehrte Richtung: Sie stellen sich ihren Träumen. Entdecken eine Qualität in ihnen, die sie im Alltag weiterführt. Als Leitfäden. Als Warnsignale. Als Kräfte jedenfalls, die so stark sind, dass sie im Alltag abgearbeitet werden müssen. Oder wenigstens transformiert: in Kunst.
Die Begegnung zwischen Traum und Alltag ist bei Renate Bodmer manchmal sehr explizit: detailliert gibt sie einen Kühlschrank wieder, dessen Tür offen stehen geblieben ist. Und sogar sein Kabel, das ihn mit der Steckdose und somit mit Elektrizität vertäut. Der Kühlschrank ist an Energie angehängt. Eigenartig, und auffällig, dass die Künstlerin auf ein Detail wie dieses so viel Wert legt.
Als ob die Dinge, die Gegenstände, eben auch Verbindungen eingehen würden mit unsichtbaren Triebfedern wie mit Energie, mit Strom. Wie Menschen Verbindungen eingehen mit Gedanken, mit unserer Vorstellungswelt, mit der nächtlichen Traumwelt, die in ganz andere Sphären führt als unser Alltag. Und auf diesen zurückwirken.
Auffällig, und beunruhigend, wie in Renate Bodmers Werk vieles im Fallen begriffen ist. Oder zumindest im Taumeln, im Schweben. Die Perspektive ist oft mehrdeutig, die Gegenstände erscheinen verzerrt und entzerren sich erst, wenn der Kopf in die richtige Richtung gelenkt wird. Alles ist somit eine Frage der Perspektive. Und das Problem ist: dass es nicht eine einzige, sondern viele sich widersprechende, gleich berechtigte Perspektiven gibt. Das ist es, was die Verwirrung im Kopf verursacht. Diese starke Fokussierung auf einzelne Gegenstände – und die Schwierigkeit, sie in Relation zu ihrer Umgebung zu bringen.
So viel zur “Theorie”. Einer leider nicht nur erfreulichen Theorie. Denn wer sich auf diese Multiperspektivität einlässt, wie Renate Bodmer das getan hat, macht es sich damit nicht einfach. Das Leben wird dann kompliziert. Weil es mehr als eine Sichtweise gibt. Und weil es schwierig wird zu entscheiden, welche die richtige, die gültige, die weiter führende ist. Die Gefahr ist gross, sich zu verstricken in diesem Gewirr der Perspektiven. Bodmers Werk macht das eindrücklich bewusst. Sie problematisiert ihre Not. Und es ist ja nicht nur eine Not. Sondern sie entspringt einer gesteigerten Sensibilität und Neugierde, sich nicht mit dem Einfachen zufrieden zu Perspektiven. Und daraus ergibt sich die Komplexität.
Ein Musterbeispiel ist die grossformatige Zeichnung “Umzug II (Déménagement)” aus dem Jahr 1994. Eigentlich: ein gezeichnetes Bild. Grau in Grau steigt eine Frau eine steile Hängeleiter aus einem Estrich herunter, über dem Arm ein schwerer Mantel, den einen Fuss zwei Sprossen über dem anderen beinahe schon akrobatisch hinter sich her ziehend. Unter ihr, quasi bereit, sie aufzufangen oder von ihr erdrückt zu werden, eine andere Frau, eine Stehleiter emporkommend und der über ihr hängenden Frau ein Nähkästchen entgegen streckend. Die dramatische Szenerie ist in engem Ausschnitt gefasst, und die beiden übrigen Quadranten neben den Frauenfiguren werden in der Diagonale von einem aus dem Lot geratenen, baumelnden Leuchter und von einer eingespannten Bohrmaschine eingenommen. Beide Attribute hängen ebenfalls: der Leuchter und die Bohrmaschine. Beide sind Objekte. Wie die Frauenfiguren sich auch als Objekte verstehen? In und zu ihrem Verhängnis in Abhängigkeiten verspannt?
Renate Bodmers Werk wäre nicht so interessant und so wichtig, wenn die Frauen hier tatsächlich nur Objekte wären. Aber natürlich sind sie mehr als das. Genauso wie die Männer im übrigen, die nicht sehr zahlreich, aber doch vorkommen in ihrem Werk. Das Problem, und die Komplexität, die sich daraus ergibt, ist eben die, dass beide beides zugleich sind: Objekte und Subjekte. Abhängig und freiheitsstrebend. Gebunden und ungebunden. Verkabelt und frei. Genau darum geht es hier: Um diese bis in den Wahnsinn treibende Komplexität. Gerade dann, wenn man sich ihr bewusst wird. Dies auszuhalten, das ist wahre Kraft. Und sehr oft sind es Frauen, die sich zum einen dieser Komplexität bewusst sind und die den Wahnsinnspagat schaffen, sie auszuhalten. Während Männer dazu tendieren, schon nur die Gespaltenheit zu verdrängen. Oder dann eben gleich ein Doppelleben zu führen – was die Sache auch nicht unbedingt einfacher macht.
Aushalten. Es ist interessant, wie hier Verben, Tätigkeiten im Raum eine entscheidende Rolle spielen. Fallen, verspannen, sich festhalten, balancieren, taumeln, stürzen. Immer geht es um die Schwerkraft, diese eine, Richtung gebende Kraft in unserem komplexen Dasein, die uns Emporstrebende zu Boden zieht oder dort festhält. Wo wir Türme besteigen wollen (eines der seltenen Tonobjekte von Renate Bodmer zeugt davon), droht stets der Niederfall. Das Abstürzen. Wo wir in einer nächtlichen Prozession (auf Rollschuhen!) fremde Götzen portieren wollen, droht der Sturz von den Rollen. Allerdings ist dieses Bildbeispiel Bodmers neben den genannten “kritischen” ein selbstsicheres: Die Prozession der nackten Rollschuhläuferinnen scheint erfolgreich. Zumindest für sie, in diesem Moment. Allerdings ist auch hier der Bildausschnitt eng. Wir wissen nicht, was danach geschieht. Wir wissen nicht, wer die Prozessierenden beobachtet. Auf wen sie treffen werden. Die Beobachterrolle ist denn überhaupt eine ebenfalls zentrale in diesem Werk. Denn wie gesagt sind die Protagonistinnen hier selten unabhängig. Sondern finden sich in einem Beziehungsgeflecht wieder, in dem es eben auch Beurteilungen absetzt.
Rollen, Rollenbilder: Auch dies ein Thema in diesem sehr zeitgemässen Werk. Ihr grossformatiges Selbstbildnis auf dem Cover unserer Einladungskarte zeigt nicht die Künstlerin allein, die uns frontal, wenn auch aus leicht abgewandter Perspektive fixiert. Und die offenbar auch: uns zeichnet. Indem die Künstlerin sich selbst malt, zeichnet sie uns. Auch dies ein hochspannendes Verhältnis zwischen Malerin und Modell, zwischen Künstlerin und Betrachtenden, zwischen Subjekt und Objekt. Die Künstlerin ganz in Weiss, in guten Jahren – eine ideale Projektionsfläche. Aber was auf sie projiziert wird, projiziert sie in ihrer Kunst auf uns zurück. Und sie ist ja eben nicht allein. Neben sich hat sie in diesem quadratischen, ganz in Blau gehaltenen Bildausschnitt, zwei merkwürdig abgewandte Figuren. Eine verdunkelte, geschichtsträchtige, statuarische im Zentrum. Und eine helle ganz zur Seite hin. Die Erloschene und die Erhellte sehen ungerührt und stoisch aus dem Bild heraus. Sie scheinen jeglicher Beziehung zwischen ihnen und der Zeichnerin enthoben. Ebenfalls frontal zu uns hockt eine dritte Figur, die man erst kaum bemerkt, versteckt im blaugrauen Schatten. Es ist kein Mensch, sondern ein Fabelwesen mit Klauen und dem Kopf eines Nasenbären. Eine geheime Verbündete der Künstlerin? Allerdings im Reich der Geschichte, der Träume, der Toten?
Renate Bodmers Werk gibt uns viele Fragen auf. Zuletzt der Hinweis auf einen schonungslosen Viererblock von Zeichnungen, die nun nicht mehr diesen halbnackten Gnomen zeigen, der seinen verwundbaren Körper in ein aushaltbares Verhältnis mit der eckigen, verletzenden Ding- und Umwelt bringen muss. Sondern eine alte Frau. Verkommen zu einem grinsenden, fratzenhaften Ungeheuer. Xylophon spielend. Und offensichtlich hier und damit ganz bei sich. In einer Welt des Wahns, des Traums.
Musik spielt auch in einer etwas späteren, zauberhaften Dreierserie von Kohle- und Tuschzeichnungen, die aus Anlass eines Konzerts des kürzlich verstorbenen US-amerikanischen Jazz-Pianisten Cecil Taylor entstanden sind. Die Zeichnungen zeigen den Pianisten weit entfernt – aus der Perspektive eines Kindes, eines Jungen. Eine Ballustrade trennt ihn von dem, was er hört. Weit entfernt von dem Flügel ist der Junge den Tönen ganz nah. Entspannt und fasziniert von ihnen nimmt er sie in sich auf. In einer der drei Zeichnungen wird er fürsorglich begleitet von einer Frau, wohl seiner Mutter.
Welche Diskrepanz zwischen dem irren Xylophon-Spiel der Alten und dem innigen Lauschen des Jungen… Dies alles, diese Verstrickungen von Menschen und Dingen und Menschen hat Renate Bodmer in ihrem Werk thematisiert. Hat sich auseinandergesetzt mit ihrer eigenen Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit, mit Überforderung und Ausgeliefertsein, mit (Über)-Druck und Zwang, mit der Generationen- und Geschlechterfrage, mit Intimität und Unsicherheit (auch zwischen Mann und Frau und zwischen Frau und Frau). Als androgynes, selbstkritisches und hoch reflektiertes Wesen. Auf einem Tresen tanzen zwei junge Frauen ausgelassen und balancieren sich mit den ausgestreckten Armen an einer Hängelampe aus. Im Vordergrund schaut eine strickende, ältere Frau zu den beiden sich auslebenden empor. Weiterstricken oder sich gehen lassen? Weiter in den Verspannungen des Lebens zubringen oder sich Freiheit zutrauen?
Diesen zentralen Lebensfragen hat sich Renate Bodmer als Künstlerin gestellt – bis in die Extremitäten des Irrsinns und der heran nahenden Demenz. Sicher: Es gibt Vorbilder, die ihr bestimmt bekannt waren – Balthus, sein Bruder Pierre Klossowski, das absurde Theater eines Ionesco zum Beispiel. Und der Käfer Kafkas. Aber es ist ein ganz abgründiges, schräges Terrain, auf das Renate Bodmer sich eingelassen hat. Dafür gebührt ihr grosser Respekt. Und Dank. Denn wir sind es, die wir uns nun nach ihrem Tod mit diesen schwierigen, das Leben in seiner ganzen Dimension zwischen Traum und Alltag umfangenden Fragen aus der Nahsicht ihrer Kunst auseinandersetzen müssen. Und können. Und dürfen. Was eine Aufgabe ist. Aber auch ein das Leben erweiterndes Privileg.
Simon Maurer, Stiftungsrat
Öffnungszeiten Mi-Fr 12 – 18:30 Uhr, Sa 11 – 17 Uhr
Location:
Stiftung Kunstsammlung Albert und Melanie Rüegg
Hottingerstrasse 8
8032 Zürich
Switzerland